Anna Junge
Dissertationsvorhaben:
Unerwartete Nachbarschaft. Jüdisch-nichtjüdische Konfrontationen im ländlichen Hessen 1945-1947
Gegenstand der Forschung ist die Wiederbegegnung deutscher Shoah-Überlebender mit ihrer nichtjüdischen Nachbarschaft 1945-1947 in ihren Herkunftsorten im ländlichen Raum. 1945 kehrten deutsche Jüd:innen, zum Teil als Angehörige der alliierten Streitkräfte, aus dem Ausland zurück, andere hatten in Ehen mit Nichtjüd:innen vor Ort überlebt. Im Zentrum der Arbeit steht die Gruppe derjenigen, die deportiert worden waren, überlebten und 1945 von Konzentrationslagern und Todesmärschen nach Hause zurückkehrten. Anders als in der Stadt waren Rückkehrer:innen im ländlichen Raum oft die einzigen Überlebenden pro Ort.
Schauplatz der Betrachtung ist der hessische Landkreis Marburg in der US-amerikanischen Besatzungszone, eine agrarisch geprägte Region mit ehemals hohem jüdischen Bevölkerungsanteil. Bis Sommer 1946 kehrten in zwölf Dörfer des Kreises 22 Überlebende zurück, um hier wenigstens temporär wieder sesshaft zu werden.
Die Arbeit gliedert sich chronologisch in fünf Kapitel. Das erste Kapitel skizziert die Vorgeschichte, ausgehend von den Deportationen 1941/42, über die letzten Kriegsjahre und Rückkehrrouten bis zum örtlichen Wiedersehen 1945. Insgesamt zeichnet das Kapitel ein Panorama der materiellen und politischen Verhältnisse sowie sämtlicher Akteursgruppen, die im Mai 1945 im Marburger Raum aufeinandertrafen.
Das zweite Kapitel betrachtet auf Grundlage von Akten der Kreisverwaltung sowie Oral History-Quellen den Moment der Ankunft von Überlebenden, Reaktionen ihrer Nachbar:innen und Formen erster Hilfe. Die Zurückgekehrten standen materiell vor dem Nichts, ihre Häuser waren bewohnt, und sie waren darauf angewiesen, von Nachbar:innen aufgenommen und versorgt zu werden. Eine wichtige psychische Stütze war auch die überörtliche jüdische Vernetzung. Diejenigen, die halfen, waren dieselben, die der jüdischen Bevölkerung bereits in den 1930er Jahren beigestanden hatten.
Das dritte Kapitel fokussiert mit Akten der Gemeindeverwaltung, Restitutions- und Spruchkammerverfahren Konflikte, die Überlebende mit nichtjüdischen Nachbar:innen ab 1945 führten, und zwar um die Rückgabe von Hausrat und Grundstücken, Gewerbegründungen und die lokale Entnazifizierung. Das Kapitel zeigt, dass sich der Verlauf der Konflikte und die Entscheidung zur Auswanderung wechselseitig beeinflussten. Diejenigen, die bleiben wollten, gingen Kompromisse ein, verzichteten auf eine umfassende Restitution und entschieden sich regelmäßig, als Zeug:in vor Gericht gegen lokale Nationalsozialist:innen zu schweigen.
Das vierte Kapitel geht mit Unterlagen aus Vereinsarchiven, Presse und Oral History-Quellen der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen und Arrangements Überlebende langfristig in ihren Herkunftsorten bleiben konnten. Während sich männliche Überlebende bald im Gemeindeleben engagierten, lebten Frauen zurückgezogen in ärmeren Verhältnissen. Über die Shoah wurde geschwiegen. Das Kapitel zeigt, dass die Überlebenden in der Bringschuld waren und für ihre Akzeptanz vor Ort viel geben mussten.
Das fünfte Kapitel widmet sich der Gegenwart und untersucht Erinnerungsprojekte zu Nationalsozialismus und Shoah auf Grundlage von Publikationen lokaler Initiativen. Das Kapitel zeigt, dass die Rückkehr von Überlebenden und die Wiederbegegnung ab 1945 im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung grundsätzlich nicht zum Thema gemacht werden. Dies gilt insbesondere für Dörfer, in denen Überlebende wieder langfristig sesshaft wurden und deren Verwandte bis heute vor Ort leben.